Bildung in der Leistungsgesellschaft – Sind wir auf dem richtigen Weg? 7 Jahren ago

PISA, TOEFL, GMAT und Co. – der durchschnittliche Student durchläuft während seiner schulischen und akademischen Ausbildung etliche Tests zur Einschätzung von Allgemeinwissen, analytischem Denkvermögen und Sprachkompetenz. Spätestens vor dem Wechsel an die nächste Bildungseinrichtung oder dem Eintritt ins Berufsleben wird die eigene intellektuelle Qualifikation häufig noch einmal „schwarz auf weiß“ zertifiziert. Ja, im Dienste der Bildung wird weltweit viel verglichen und gerankt. Wie internationale Standardisierungen von Schul- und Hochschulpolitik unser Bildungsverständnis geprägt haben und warum wir dieses überdenken sollten.

PISA und das ökonomische Nutzendenken

Bereits mit 15 Jahren kommen Schülerinnen und Schüler in den Genuss Teil eines besonderen Vergleichsprojekts zu werden. Unter dem Begriff „Literacy“ fasst die PISA-Schülerleistungsstudie drei Bereiche zusammen, auf deren Basis die OECD Nationen den Bildungserfolg ihrer Schüler messen: Lesekompetenz, mathematische Kompetenz und naturwissenschaftliche Grundbildung. Die OECD selbst verweist dabei auf ihre „funktionale Sicht“ auf sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Funktional bedeutet auf die Bedürfnisse moderner Volkswirtschaften ausgerichtet. Oder – in den Worten der OECD – „basale Kulturwerkzeuge“, die für die erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Leben vonnöten sind. Nach Veröffentlichung der Studienergebnisse orientieren sich meist diejenigen Länder, die moderat bis schlecht abschneiden, an denjenigen, die das Ranking anführen: Bildungsreformen werden angestoßen und Lernmethoden reflektiert. Hierzulande wurden infolge von PISA u. a. Ganztagsschulen und das Turbo-Abitur eingeführt sowie nationale Bildungsstandards umgesetzt. Bildungsstandards? Richtig gelesen. Denn obwohl die „funktionale Sicht der Dinge“ eine auf den ökonomischen Nutzengedanken reduzierte ist, hat sie unser allgemeines Bildungsverständnis verändert. Der Terminus der Kompetenz wird heutzutage zu weiten Teilen dem Bildungsbegriff gleichgesetzt. Das kann problematisch sein, weil die Potenziale, die ein „gebildeter“ Mensch entfalten kann, weit über die besagten Basiskompetenzen hinausgehen. Der allgegenwärtige Leistungsgedanke in modernen Wissensgesellschaften trägt jedoch dazu bei, dass fast ausschließlich jene Kompetenzen gefördert werden, die im Sinne eines ökonomischen Nutzens verwertbar sind.

„In der Wissensgesellschaft geht es nicht um Wissen, nicht um Erkenntnis und schon gar nicht um Weisheit – es geht um Ranglisten, um Märkte, um Bilanzen und um Einfluss. Doch der Mensch ist kein „Humankapital“, er ist nicht nur ein Rädchen im Wirtschaftsprozess, dessen Leistung man genau bilanzieren kann.“

– Rosa Tennenbaum (Goethe-Institut e. V.)

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Humboldt: „Bildung als individueller Entfaltungsraum“

Im klassischen, humanistischen Bildungsverständnis, das das Bildungswesen in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert prägte, stand noch der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Rahmen der Humboldt’schen Weltanschauung wurde Bildung nicht absolut, sondern vielmehr als persönlicher Prozess definiert. Der Fokus lag nicht etwa auf generischen Fähigkeiten, die in vielfältigen gesellschaftlichen Kontexten Anwendung und Nutzen finden, sondern auf spezifischen Inhalten. Während der Bildungsbegriff nach PISA auf Anpassung ausgelegt ist, sah Humboldt die Bildung eines Menschen als Potenzial zu dessen charakterlicher sowie intellektueller Selbsterkenntnis und -verwirklichung. Die individuelle Bildung des Menschen war der Raum, in dem alle menschlichen Kräfte gleichermaßen die Möglichkeit bekamen, entfaltet zu werden: Entgegen der Denkweise im Zeitalter der Aufklärung also neben dem Verstand auch das Empfinden und Fühlen, die Fantasie und die Kreativität. Ein gebildeter Mensch war nicht derjenige, der sich Inhalte am besten aneignete, sondern derjenige, der sich mit vielfältigen Inhalten auseinandersetzte, um sich selbst und sein Verhältnis zur Außenwelt zu erkennen und zu reflektieren.

Diese Perspektive setzt eine Mündigkeit voraus, die Schülern und jungen Akademikern durch die immer stärkere Angleichung der Bildungssysteme und Kompetenzanforderungen heutzutage zumindest in Teilen abgesprochen wird. Das humanistische Bildungsideal ist mit der Kompetenzperspektive nach PISA daher kaum vereinbar. Bildung hingegen sollte auch heute noch mehr als das Streben nach dem Status Quo sein. Sie sollte individuelle Innovation fördern, indem sie Inhalte in den Mittelpunkt rückt und damit Möglichkeiten für persönlichen Erkenntnisgewinn schafft. Genormte Bildungssysteme können diese Entfaltungsspielräume kaum bieten. Vor diesem Hintergrund sollten wir unsere gegenwärtigen Bildungsreformen vielleicht überdenken, den Leistungsgedanken für einen Moment vergessen und trotz globalisierter Wirtschafts- und Sozialstrukturen auch alten Weltanschauungen größere Aufmerksamkeit schenken.

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